Fehlende Erfindungshöhe bei in Kauf genommenen Nachteilen (BGH X ZR 50/16 – Gurtstraffer)
Auch in Deutschland hat es sich etabliert, die Erfindungshöhe anhand des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes zu beurteilen. Dabei spielen Vorteile der Erfindung einerseits und Nachteile beim Stand der Technik andererseits eine zentrale Rolle. Man unterstellt nämlich, dass der Fachmann bekannte Nachteile vermeiden möchte. Der BGH hat sich kürzlich mit folgender Frage befasst: Kann eine Lösung als nicht-naheliegend und somit erfinderisch gelten, wenn sie mit vorhersehbaren Nachteilen verbunden ist?
Der Patentanspruch des Streitpatents betrifft einen „Gurtstrafferantrieb“, der im Wesentlichen aus zwei hintereinander geschalteten Schneckengetrieben besteht. Jedes der beiden Schneckengetriebe hat eine 90° Umlenkung, so dass Antriebsachse und Abtriebsachse des Gurtstrafferantriebs letztendlich parallel zueinander sind.
Der Nichtigkeitsangriff stützt sich hauptsächlich auf zwei Entgegenhaltungen: Die eine (D3) zeigt die genau gleiche Abfolge zweier Schneckengetriebe bei einer Aufrollvorrichtung. Allerdings ist dieses Getriebe zum Zweck einer gewissen Lockerung des Gurts eingesetzt. Gegenüber dem Streitpatent bestand also lediglich ein anderer, quasi gegenteiliger Einsatzzweck.
Die andere Entgegenhaltung (D2) betrifft zwar einen Gurtstraffer, aber mit einer Kombination aus Kronenradgetriebe und Schneckenradgetriebe. Das heisst, während die Erfindung an erster Stelle ein Schneckengetriebe verwendete, benutzte die Entgegenhaltung stattdessen ein Kronenradgetriebe.
Das deutsche Bundespatentgericht erklärte das Patent für nichtig. Es sei dem Fachmann bekannt, dass Kronenradgetriebe den Nachteil hätten, dass sie Geräusche erzeugen. Gleichzeitig sei dem Fachmann klar, dass andere Umlenkgetriebe, wie z.B. Schneckengetriebe, diesen Nachteil nicht haben. Der Fachmann hatte deshalb Anlass gehabt, nach Getriebe-Lösungen zu suchen, die den Nachteil nicht aufweisen. Da die Entgegenhaltung D2 als zweites Getriebe bereits ein Schneckenradgetriebe vorsah, habe man vom Fachmann durchaus erwarten können, dass er auch als erstes Getriebe ein Schneckenradgetriebe einsetzen würde.
Dagegen legte die Patentinhaberin Berufung beim BGH ein. Dieser bestätigte jedoch, dass das Streitpatent nicht erfinderisch ist. In seiner Begründung führt der BGH unter anderem folgendes aus.
Der Vorteil des Schneckengetriebes, nämlich eine Selbsthemmung gegen ein Drehmoment von der Gurtspule auf den Elektromotor, ist aus der Gurtstraffer-Entgegenhaltung (D2) bekannt.
Zudem zeigt die D3 dem Fachmann das Prinzip, zwei Schneckengetrieben als 90°-Umlenkgetriebe zu verwenden, um damit geräuscharm eine parallele Anordnung von Gurtspule und Elektromotor zu erreichen. Der Fachmann kann erkennen, dass die Anordnung eines Elektromotors, zweier Schneckengetriebe und einer Gurtspule, die Funktion einer Gurtstraffung erzielen kann. Man braucht nur den Elektromotor umzupolen, um eine andere Drehrichtung und damit statt einer Gurtlose eine Gurtstraffung zu erzeugen.
Da dem Fachmann die nachteilige Geräuschentwicklung von Kronenradgetrieben bekannt war, hatte er Anlass, den aus der D2 bekannten Gurtstraffer dahingehend weiter zu entwickeln, dass die Geräuschemissionen reduziert werden. Er erhielt hierzu Anregungen im Stand der Technik gemäss D3, wie eine solche Verbesserung konkret realisiert werden könnte.
Der Einwand der Patentinhaberin, dass die Verwendung von zwei statt nur einem Schneckengetrieben eine höhere Untersetzung zur Folge habe und dass deshalb die patentgemässe Anwendung nicht nahegelegen habe, greift nicht. Die Tatsache, dass der Elektromotor bei zwei Schneckenradgetrieben höher drehen muss, ist nämlich im Streitpatent in keiner Weise als Schwierigkeit angesprochen. Ebensowenig ist angegeben, wie dieser Nachteil zu überwinden sei. Es ist also so, dass das Patent diesen Nachteil stillschweigend hinnimmt.
Wenn die vom Erfinder vorgeschlagenen Lösungsbeispiele die vorhandenen Nachteile oder Schwierigkeiten ignorieren und schlicht in Kauf nehmen, dann kann nicht argumentiert werden, der Fachmann hätte diese Schwierigkeiten erkannt und hätte die entsprechend nachteilige Lösung nicht in Betracht gezogen.
Als weiteren Einwand gegen das Naheliegen hat die Patentinhaberin folgendes vorgetragen: In der Entgegenhaltung wird angesprochen, dass eine Selbsthemmung anzustreben sei und es werden als Lösung diverse andere Massnahmen angesprochen, nicht aber die Verwendung eines zweiten Schneckenradgetriebes. Es habe für den Fachmann daher eher nahegelegen, eine dieser anderen Massnahmen für die Geräuschdämmung zu wählen.
Auch dieser Einwand greift gemäss BGH nicht. Kommen für den Fachmann zur Lösung eines Problems mehrere Alternativen in Betracht, können mehrere von ihnen naheliegend sein. Hierbei ist es grundsätzlich ohne Bedeutung, welche der Lösungsalternativen der Fachmann als erste (d.h. eher naheliegende) in Betracht zöge.