Rechtliches Gehör bei ex officio erhobenen Einwänden (R 0016/13 „kristallines Mikronisat“)

Europäisches Patentamt (EPA)

Die Wahrung des rechtlichen Gehörs ist in amtlichen und gerichtlichen Verfahren ein zentraler Grundsatz. Ein Entscheid darf sich nicht auf Gründe stützen, zu denen sich die vom Entscheid negativ betroffene Partei nicht äussern konnte. Im Überprüfungsverfahren R 0016/13 „kristallines Mikronisat“ hat die Grosse Beschwerdekammer einen Beschwerdekammerentscheid revidiert, in welchem die Beschwerdekammer ex officio einen Einwand gegen Vergleichsversuche erhoben hatte.

Das Patent, welches Gegenstand des Streits war, betraf ein kristallines Mikronisat von Tiotropiumbromid, das unter anderem durch bestimmte Parameterbereiche für Partikelgrösse, spezifische Oberfläche, spezifische Lösungswärme und Wassergehalt charakterisiert war.

Das europäische Einspruchsverfahren führte zum Widerruf des Hauptanspruchs. Dabei stützte sich der Einspruchsentscheid auf ein Dokument D2 als nächstliegenden Stand der Technik. Die beanspruchte Erfindung sei durch diese Entgegenhaltung nahegelegt.

Die Patentinhaberin erhob Beschwerde und bestritt, dass D2 der massgebliche nächstkommende Stand der Technik sei. Es sei von der Entgegenhaltung D24 auszugehen und die von ihr bereits im Prüfungsverfahren vorgelegten Vergleichsversuche würden zeigen, dass die patentgemässe Produkte sich durch unerwartet hohe Lagerstabilität gegenüber dieser Entgegenhaltung auszeichneten.

In der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer wurden die Entgegenhaltungen D2, D24 und D25, nicht aber die Vergleichsversuche diskutiert. Am Ende der Verhandlung verneinte die Beschwerdekammer die Patentfähigkeit der verteidigten Ansprüche. In der nachfolgenden schriftlichen Entscheidungsbegründung erläuterte die Beschwerdekammer, dass die Vergleichsversuche nicht aussagekräftig seien, weil die im Anspruch enthaltenen Parameter nicht angegeben seien.

Gegen diesen Entscheid reichte die Patentinhaberin einen Überprüfungsantrag bei der Grossen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts ein.

Die Grosse Beschwerdekammer hebt den angefochtenen Entscheid auf, weil er sich auf einen Grund stützt, der zu keinem Zeitpunkt im Verfahren thematisiert worden ist und den die Patentinhaberin auch nicht aufgrund ihrer Fachkunde als entscheidungskritisch erkennen konnte.

In Ihrer Begründung ruft die Grosse Beschwerdekammer allerdings als erstes eine lange Liste von Entscheiden in Erinnerung, welche sich mit den Anforderungen für die Wahrung des rechtlichen Gehörs befassen. In fast allen dieser früheren Entscheiden war der Vorwurf der Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht begründet.

So ist es zum Beispiel nicht nötig, dass der Spruchkörper die Parteien im Vornhinein über alle denkbaren Entscheidungsgründe informieren muss (R 1/08). Es genügt, wenn die Erheblichkeit einer Entscheidungserwägung im Lauf des Verfahrens deutlich geworden ist und von einer patentrechtlich und technisch informierten Partei erkannt werden kann. Es genügt, wenn die Parteien die Gelegenheit erhalten haben, sich zu den entscheidungserheblichen Gesichtspunkten zu äussern, zum Beispiel zu einer entscheidungserheblichen Passage einer Entgegenhaltung.

Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdekammer ihre Entscheidung auf Gründe gestützt, die von keiner Partei vorgebracht worden sind, sondern von ihr selbst. Dazu merkt die Grosse Beschwerdekammer an, dass die Aufgabe der Beschwerdekammer in einem Einspruchsbeschwerdeverfahren eigentlich darin besteht zu prüfen, ob die Widerrufsgründe stichhaltig sind oder ob aufgrund der Anträge und Begründung der Beschwerdeschrift die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent aufrechtzuerhalten ist. Im vorliegenden Fall aber hat die Beschwerdekammer eigene Gründe ins Spiel gebracht. Zwar ist das gemäss der Grossen Beschwerdekammer zulässig. Allerdings müsste die Beschwerdekammer solche eigenen Erwägungen in der Ladung zur mündlichen Verhandlung oder spätestens in der mündlichen Verhandlung den Parteien zur Kenntnis bringen, sofern sie nicht berechtigterweise annehmen kann, dass die Parteien die Erwägungen ohne Zweifel im Voraus erkennen können.

Obwohl die Patentinhaberin mehrfach auf die Vergleichsversuche hingewiesen hat, hat die Beschwerdekammer zu keinem Zeitpunkt erkennen lassen, dass sie Bedenken bezüglich der Relevanz der Versuche hat. Dadurch ist das rechtliche Gehör verletzt.

Dieser Entscheid zeigt, dass die Parteien bzw. deren Patentanwälte zwar gehalten sind, sehr aufmerksam die potenziell entscheidungserheblichen Aspekte zu analysieren und zu kommentieren. Wenn aber die Beschwerdekammer Einwände erkennt, die nicht von einer Partei ins Verfahren eingeführt worden sind, dann muss sie dies den Parteien rechtzeitig zur Kenntnis bringen.

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